Auswanderung versus unerlaubtem Entziehen von der Militärdienstpflicht
253. Folgende Personen:
1) Ferdinand Julius Pöße, geboren in Groß-Heinrichsdorff am 24. März 1843,
2) Jurgis Buttkus, geboren in Rucken am 6. April 1843,
3) Johann Friedrich Herrmann Taudien, geboren in Groß-Lappienen am 23. Juni 1843,
4) Carl August Grübner, geboren in Grietischken am 19. August 1844, ...
117) Friedrich John, geboren in Warnie am 5. November 1849,
118) Carl Lutat, geboren daselbst am 27. März 1849,
sind Seitens der Königl. Staatsanwaltschaft hierselbst unter dem 3. Dezember 1873 angeklagt, dem Eintritt in den Dienst des stehenden Heeres oder der Flotte dadurch sich zu entziehen gesucht zu haben, daß sie ohne Erlaubniß das Bundesgebiet verlassen, beziehungsweise nach erreichtem militairpflichtigen Alter, sich außerhalb des Bundesgebiets aufgehalten haben. Es ist deshalb durch Beschluß vom heutigen Tage die Untersuchung gemäß § 140 des Strafgesetzbuchs gegen sie eröffnet worden. Zur mündlichen Verhandlung ist ein Termin auf den 13. Juni 1874, Vormittags 9 Uhr, in dem Criminal-Sitzungssaale des unterzeichneten Gerichts, Zimmer No. 21 anberaumt, zu welchem die oben benannten Angeklagten hierdurch geladen werden, mit der Aufforderung, zur festgesetzten Stunde zu erscheinen und die zu ihrer Vertheidigung dienenden Beweismittel mit zur Stelle zu bringen oder solche dem Gericht so zeitig vor dem Termine anzuzeigen, daß sie zu demselben herbeigeschafft werden können, sowie unter der Warnung, daß im Falle ihres Ausbleibens mit der Untersuchung und Entscheidung in contumaciam verfahren werden soll.
Tilsit, den 10. Dezember 1873
Königliches Kreisgericht, erste Abtheilung.
Zu diesem Artikel erhielten wir ein Schreiben von Herrn Lenski, dessen Stellungnahme zur Richtigstellung der hier zuvor fälschlich beschriebenen Darstellung, dass Auswanderung oftmals oder meist wegen des Entzuges vor dem Militärdienst durchgeführt wurde. Wir danken Herrn Lenski für diese informativen Hinweise und hoffen, dass die LeserInnen Nutzen und neue Erkenntnisse hieraus ziehen können:
Vom Staat aus gesehen hatten die Betroffenen sich dem Wehrdienst durch Auswanderung ohne Genehmigung entzogen. Ob das die Auswanderer aber als Flucht vor dem Wehrdienst getan hatten, ist ja keineswegs sicher. Viele werden einfach ohne Genehmigung ausgewandert sein, weil sie sich vor dem Genehmigungsverfahren drücken wollten, nicht vor dem Wehrdienst - der Ausgang des Verfahrens war ja auch keineswegs sicher - und weil sie zu Recht meinten, dass ihre Auswanderung jenseits der Grenze nicht mehr strafrechtlich verfolgt würde. So sind denn Ende des 19. Jhdts. auch zwei Brüder meines Großvaters als junge Kerle mit ihrem Vater - also meinem Urgroßvater - von Soldau nach Russisch-Polen ausgewandert. Als sie nach vielen Jahren ihre Verwandtschaft in Ostpreußen besuchten, wurden sie auch prompt vorübergehend festgesetzt. Das Brockhaus Konversations-Lexikon von 1908 schreibt zur Rechtslage grob wie folgt. Soldaten die aktiv Wehrdienst leisteten, also bei der Truppe standen, bekamen grundsätzlich keine Auswanderungsgenehmigung. Eine Auswanderungsgenehmigung mussten beantragen alle Männer vom 17. bis zum 25. Lebensjahr. Für diejenigen aber, die aktiven Wehrdienst geleistet hatten und weiterhin bei der Reserve oder der Landwehr eingeteilt waren, verlängerte sich das bis zum 40. Lebensjahr. Dabei gab es für Verstöße unterschiedliche Strafandrohungen. Die Masse der Menschen wanderte damals in die USA aus - der Brockhaus spricht von 9/10, wobei genaue Statistiken fehlen. Und mit den USA gab es durch das Bancroft-Abkommen vom 22.2.1868 - so benannt nach dem US-Verhandlungsführer - eine Sonderregelung. Danach war straffrei, wer in den USA naturalisiert worden war und danach fünf Jahre dort gelebt hatte. Wer also in die Staaten auswanderte, konnte später sogar ganz offiziell wiederkommen. Viele werden auch ohne Genehmigung ausgewandert sein, weil sie den Zeitverlust fürchteten. Stellen wir uns einen 18-jährigen vor, der mit seinen Eltern auswandern will. Soll der nun auf seine Musterung mit 20 Jahren warten und dann drei Jahre aktive Dienstpflicht ableisten? Und was war, wenn die Familie mehrere Söhne hatte? Die konnten ihre Pläne ja nie verwirklichen. Eine Besonderheit war in Ostpreußen außerdem, dass viele gut ausgebildete Leute, besonders auch Handwerker, nach Russisch-Polen oder in die russischen Ostseeprovinzen gingen, weil sie sich mit ihrer Ausbildung dort Chancen erhofften. Es waren also nicht immer nur die Ärmsten der Armen die aus reiner Not und Vrezweiflung auswanderten. Und noch etwas. Als der deutsch-französische Krieg 1870/71 ausbrach, sind eine Reihe Ausgewanderter mit Genehmigung der russischen Regierung nach Preußen gekommen, um freiwillig mit in den Krieg zu ziehen. Die hatten aber vorher in der preußischen Armee gedient.
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